Titel
Alkuin von York und die geistige Grundlegung Europas. Akten der Tagung vom 30. September bis zum 2. Oktober 2004 in der Stiftsbibliothek St. Gallen


Herausgeber
Tremp, Ernst; Schmuki, Karl
Reihe
Monasterium Sancti Galli 5
Erschienen
St. Gallen 2010: Verlag am Klosterhof
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Max Kerner, Historisches Institut, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen

Aus Anlass der 1200. Wiederkehr des Todestages Alkuins von York (um 730–804) fand im Herbst 2004 in der Stiftsbibliothek St. Gallen ein internationales Fachkolloquium statt, dessen Beiträge in dem vorliegenden Sammelband bibliophil gestaltet, mit zahlreichen Abbildungen und verschiedenen abschließenden Verzeichnissen veröffentlicht wurden. Sie alle gelten dem Werk und Wirken Alkuins und der mit seinem Namen verbundenen „geistigen Grundlegung Europas“.

Am Anfang steht der Eröffnungsvortrag von Rudolf Schieffer (München) über Alkuin und Karl den Großen, über „zwei höchst unterschiedliche Zeitgenossen“ (S. 15): auf der einen Seite der dominante Frankenherrscher mit nur wenigen Selbstzeugnissen, auf der anderen Seite der angelsächsische Gelehrte als „der fruchtbarste Autor seiner Generation (mit einem überlieferten Oeuvre von zwei vollen Migne-Bänden)“ (S. 15). Diese Quellensituation mache es auf eigentümliche Weise leicht und schwer zugleich, „Alkuins Bedeutung für die Herrschaft Karls des Großen exakt abzuschätzen“ (S. 31). Einerseits ist es Alkuin, der seit 781 „als wichtiger Berater und Ghostwriter des Königs“ (S. 23) in allen kulturellen, kirchlichen und kirchenpolitischen sowie theologischen Fragen als die zentrale Gestalt der von Karl dem Großen bewusst geschaffenen Hochkultur zu gelten hat: mit seinen Lehrschriften zu den artes liberales, mit seiner Gestaltung bei der Admonitio generalis (789) und ein wenig früher bei der Epistola de litteris colendis, mit seinem Kampf gegen die spanische Theologie des Adoptianismus, mit seiner Erstellung der sogenannten Alkuin-Bibel und nach 796 (Wechsel nach St. Martin in Tours) mit seinen mehr als 50 Briefen an Karl den Großen oder mit seinem bedeutenden Traktat über die Dreifaltigkeit von 802. Andererseits wird man Alkuins Präsenz zwischen 781 und 804 im unmittelbaren Umfeld des Herrschers auf zwei mal drei Jahre (786–89 und 793–96) einzugrenzen und damit auch seine Rolle in der Hofgesellschaft („Leiter der Hofschule“) einzuschränken haben. Nach Schieffer ist es deswegen immer wieder notwendig, „das starke, auch populärwissenschaftlich fest verankerte Bild Alkuins als denkender Kopf neben dem fränkischen Herrscher zu hinterfragen“ (so Ernst Tremp, S. 10).

In ähnlicher Weise versucht Wilfried Hartmann (Tübingen) unser Alkuinbild zu präzisieren, indem er danach fragt, in welcher Weise Alkuin an der Gesetzgebung Karls des Großen mitgewirkt hat, aufgezeigt an den Beispielen der Admonitio generalis (zentrale Rolle der Bibel), an dem Frankfurter Kapitular von 794 (Kampf gegen den Adoptianismus) sowie schließlich an der Herbstsynode 796 (Ablehnung des Zehntgebotes). Vielleicht war es auch Alkuin, der darauf hingearbeitet hat, die drakonische Capitulatio de partibus Saxoniae von 782 (?) in das mildere Capitulare Saxonicum von 797 zu ändern. Klaus Herbers (Erlangen) erweitert den Blick, indem er den „Beitrag der Päpste zur geistigen Grundlegung Europas“ in der Zeit Alkuins erörtert und dabei an die Translationen von Reliquien, von hagiografischen Texten und liturgischen Büchern, von Bibelhandschriften sowie von Romführern mit den Angaben römischer Kirchen und Märtyrergräber erinnert. Rom sollte als „Ort authentischer Überlieferung und Legitimation“ (S. 68) deutlich werden.

Der weitaus größte Teil der St. Galler Kongressbeiträge ist den Schriften Alkuins gewidmet. So analysiert Louis Holtz (Paris) das „oeuvre grammaticale“ Alkuins im Kontext seiner Zeit, so kennzeichnet Gerhard Schmitz (München) eine Sammlung von Musterpredigten Alkuins, die für die volkssprachliche Übersetzung und Verwendung gedacht waren, so behandelt Walter Berschin (Heidelberg) die vier Heiligenviten Alkuins (S. Martin, S. Richarius, S. Vedastus und S. Willibrord) und so beschreibt schließlich E. Ann Matter (Philadelphia, USA) „Alcuin’s Theology“, genauer dessen theologischen Traktat De fide sanctae et individuae Trinitatis, dessen Komposition und umfangreiche wie zeitnahe und offenbar auch zentral gesteuerte handschriftliche Verbreitung. Alkuin erhält in diesen Einzelstudien hohe Wertnoten: Er ist „ein Klassiker der Biographie“ (S. 177) bzw. „a committed and successful teacher of Christian doctrine“ (S. 103).

Nicht so hoch gelobt werden Alkuins Dichtung, deren poetische Formen und Themen, zu denen Francesco Stella (Siena) meint: „Alkuin ist kein großer Dichter […]. Die formale und inhaltliche Qualität der Verse ist nicht immer originell und für gewöhnlich wenig elegant.“ (S. 126f.) Trotzdem habe er „wirksame Modelle geschaffen, die das Mittelalter zu schätzen wissen wird [und die] auch Spuren seiner [Alkuins] intimen Welt, seiner Ängste und seiner Schwäche hinterlassen [haben]“ (S. 127f.). Zu beachten sind auch Alkuins Rätselgedichte und -texte, insbesondere die ihm zugeschriebenen Propositiones ad acuendos iuvenes, die Dieter Bitterli (Zürich) als „älteste mathematische Aufgabensammlung in lateinischer Sprache“ (S. 163) vorstellt.

Abgerundet werden die Studien des Sammelbandes durch eine Übersicht der handschriftlichen Verbreitung von Alkuins Werken bereits im 9. Jahrhundert, die David Ganz (London) als „Zeugnis seines Erfolgs als Autor und Lehrer“ (S. 185) skizziert. Dazu passt die Bedeutung Alkuins für die zeitgenössische Buchmalerei, die Lawrence Nees (Newark, USA) herausarbeitet und an einigen signifikanten Beispielen verdeutlicht: an der sogenannten Alkuinbibel, die sich heute in der Stiftsbibliothek in St. Gallen (Cod. 75) befindet und die noch während der Zeit Alkuins in Tours entstand, weiter an dem Oxforder Lektionar (Bodleian Library, Cod. Douce 176), das in Chelles unter dem Abbatiat Giselas, der Schwester Karls des Großen, geschrieben wurde, schließlich an der Trierer Evangelienhandschrift (Stadtbibliothek, Cod. 23) aus der Zeit um 800 sowie an dem illustrierten Apokalypsentext (heute Valenciennes, Bibliothèque municipale, Cod. 99), der vielleicht aus dem Kloster Saint Amand stammt, wo Alkuins Freund Arn Abt war. Aufgezeigt werden soll durch einen solchen Vergleich nicht allein die Bedeutung des Skriptoriums von Tours, sondern auch die eines Netzwerkes von Vertrauten Alkuins, die dessen Rolle in der karolingischen Buchmalerei belegen und vertiefen können.

Am Ende stehen drei Beiträge zu Alkuins Verbindung zum Benediktinerkloster St. Gallen. Ernst Tremp (St. Gallen) beschreibt die wenigen Kontakte Alkuins zu den Mönchen des Gallusklosters, behandelt das Verzeichnis der Alkuintexte im dortigen ältesten Bibliothekskatalog (Cod. 728), der nach der Mitte des 9. Jahrhunderts angelegt wurde, listet die St. Galler Handschriften mit Werken Alkuins auf und erweist Alkuin in Anlehnung an das Wort des Notker Balbulus (gestorben 912) als eine Leitfigur der Translatio studii, die „von der Aachener Hofschule oder vom Martinskloster in Tours“ (S. 230) bis nach St. Gallen reichte. Ähnlich bedeutsam war die St. Galler Alkuinüberlieferung für dessen frühneuzeitliche Werkausgaben aus der Feder des Jesuiten Heinrich Canisius (gest. 1610), André Duchesnes (gest. 1640) und des Frobenius Forster (gest. 1791), Abt von St. Emmeram in Regensburg, auf die Karl Schmuki (St. Gallen) eingeht.

„Im Spiegel der St. Galler Handschriften“ betrachtet schließlich Anton von Euw (gestorben 2009) „Alkuin als Lehrer der Komputistik und Rhetorik Karls des Großen“ (S. 251). Hier wird am Ende eine schöne Verbindung zwischen St. Gallen und der Aachener Marienkirche offenkundig: zum einen in einer Sammelhandschrift mit Alkuintexten (heute Zürich, Zentralbibliothek, Ms. C 80, als Dauerleihgabe in der St. Galler Stiftsbibliothek) aus dem dritten Viertel des 9. Jahrhunderts mit einer Federzeichnung der Maiestas Domini, die nahelegt, dass das karolingische Kuppelmosaik in Aachen ähnlich gestaltet gewesen sein dürfte. Zum anderen findet sich in einer aus St. Gallen stammenden Handschrift (heute Universitätsbibliothek Leiden, Cod. Voss. Lat. Q. 69) aus der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert die Bauinschrift der Aachener Marienkirche, die in den ersten drei Distichen von den Epigrammen des Prosper Aquitanus (gestorben um 463) herrühren und um ein viertes Distichon von Alkuin ergänzt worden sein dürfte. „Alkuin hätte somit auch diesem erhabenen Werk [der Aachener Kirche Karls des Großen] sein Siegel aufgedrückt“ (S. 262).

Ernst Tremp hat in seiner Einführung zum vorliegenden Kongressband auf Jacques Le Goff Bezug genommen, für den „Europa erst mit dem Aufschwung des Städtewesens und der Ausbildung der Universitäten im 13. Jahrhundert konkrete, verbindliche Gestalt angenommen hat“. Die karolingische Welt sei für ihn ein „fehlgeborenes Europa“ (S. 7). Diese provokante These des französischen Mediävisten vermögen die gelehrten Beiträge „zu Alkuin und der geistigen Grundlegung Europas“ überzeugend zu widerlegen und detailreich zu korrigieren. Darüber hinaus leisten sie mancherlei Neujustierungen zu Alkuins Schlüsselstellung im geistigen Leben der Zeit Karls des Großen. Insgesamt ein mit Gewinn zu lesendes Buch, das unser Wissen über Alkuin, den vir undecumque doctissimus, wie Einhard ihn bezeichnet (Vita Karoli Magni, c. 25), vielfältig erweitert und vertieft.